Liebe Gemeindemitglieder,

neulich blätterte ich im Gotteslob und blieb bei dem Lied mit der Nummer 872 hängen: «Ihr Mächtigen, ich will nicht singen eurem tauben Ohr …» Schon die Tatsache, daß keine Melodie abgedruckt ist, kann einen neugierig machen – und ist eine Geschichte, die ein andermal erzählt werden soll. Im Text des Liedes aber liegen viele Samenkörner verborgen, von denen ich Ihnen heute einige nahebringen will.

     

Die erste Strophe beginnt mit einer Anspielung auf Psalm 137.

Dort lesen wir: «An den Strömen Babels, da saßen wir und weinten, als wir an Zion dachten. Unsere Leiern hängten wir an die Weiden im Land. Denn dort verlangten, die uns gefangen hielten, Lieder von uns, und die uns quälten, Freudengesänge: Singt uns Zionslieder. Wie könnten wir Lieder des HERRN singen auf fremdem Boden» (Ps 137,1–4). Wir befinden uns also in Babel, das heißt in der Fremde, Verbannung, Gefangenschaft. Mit der einen oder anderen Form von Gefangenschaft werden Sie in den letzten Tagen Bekanntschaft gemacht haben. Aber nach welcher Stadt halten wir Ausschau? Wohin muß Gott uns bringen, wenn er uns «heimführt»? Wo ist unser eigentliches Zuhause?

«Die Befreiten des HERRN werden zurückkehren und nach Zion kommen unter Jubel» (Jes 51,11). Zion, das ist «zunächst die kanaanitisch-jebusitische Burg, die David einnimmt» (2Sam 5,7), «später der wenige hundert Meter nördlich davon gelegene heilige Bezirk, in dem der Tempel steht, zuletzt die ganze Stadt Jerusalem, wie sie vor dem Exil bestand», schließlich der Sitz des HERRN, der «als Gott und König der ganzen Welt und aller Völker nach Jerusalem zurückkehren und seinen Gottesberg wieder in Besitz nehmen» wird; so erklärt es die Zürcher Bibel. Doch wenngleich «Kummer und Seufzen fliehen», geht Jesaja mit meiner Angst und Aufgescheuchtheit hart ins Gericht: «Wer bist du, daß du dich gefürchtet hast vor Menschen, die ja dahinsterben, und vor Menschen, die dahingegeben werden wie Gras, und daß du den HERRN vergessen hast, der dich gemacht hat, der den Himmel ausgespannt und die Erde gegründet hat, und daß du alle Zeit, dauernd, zitterst vor dem Zorn des Bedrängers, wenn er zielt, um zu vernichten? Wo ist denn der Zorn des Bedrängers? Rasch wird befreit, wer gekrümmt in seinen Fesseln liegt, er muß nicht sterben, nicht ins Grab, und an Brot hat er keinen Mangel» (Jes 51,12–14).

Doch was verbindet uns als Christen mit dem Zion? Dies versucht uns der Autor des Hebräerbriefes zu sagen: «Ihr seid hingetreten zum Berg Zion und zur Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem» (Hebr 12,22). Oder in den Worten des Apostels Paulus: «Unsere Heimat ist im Himmel» (Phil 3,20). Will er uns damit aufs Jenseits vertrösten? Nicht auf ein Jenseits, in das wir erst nach unserem leiblichen Tod eintreten!

«Denn seht, das Reich Gottes ist mitten unter euch» (Lk 17,21). Und wenn es dazu noch eines Beweises bedarf, empfehle ich Ihnen einen Blick den Newsletter der vergangenen Tage.

«Nun stehen unsere Füße in deinen Toren, Jerusalem» (Ps 122,2). In diesen Refrain können alle einstimmen, die sich im Jenseits der Gegenwart aufgehoben wissen. Wenn auch unser Blick oft getrübt ist durch viele Verpflichtungen «der Welt», wenn auch unser Kopf gleichsam in den Wolken der Diesseitigkeit feststeckt, seit der Taufe stehen unsere Füße im Reich Gottes. Vom Aufatmen in der göttlichen Sphäre spricht schon Mose: «Sechs Tage sollst du deine Arbeit tun, am siebten Tag aber sollst du ruhen, damit dein Rind und dein Esel ausruhen und der Sohn deiner Magd und der Fremde aufatmen können» (Ex 23,12), «denn in sechs Tagen hat der HERR Himmel und Erde gemacht, am siebten Tag aber ruhte er und schöpfte Atem» (Ex 31,17). Und wer gut eingeatmet hat, der möge jetzt auf den Button drücken und mit mir die erste Strophe singen!

Wir hören und lesen in diesen Tagen viel von Mauern. Mauern können uns beschützen und uns einkerkern. Bald sind sie ein Segen: «und auf trockenem Boden gingen die Israeliten mitten ins Meer hinein, während das Wasser ihnen zur Rechten und zur Linken eine Mauer bildete» (Ex 14,22), bald ein Fluch: der Tetrarch Herodes «ließ den Johannes im Gefängnis enthaupten» (Mt 14,10). Doch wo Gott eingreift, da «wendet» er «Zions Geschick», da wird «unser Mund voll Lachen und unsere Zunge voll Jubel» (Ps 126,1f). Lachend, fröhlich sollen wir seinen Auftrag erfüllen, Kerker einzureißen: «In Gerechtigkeit habe ich, der HERR, dich gerufen, und ich ergreife deine Hand, und ich behüte dich und mache dich zum Zeichen des Bundes mit dem Volk, zum Licht der Nationen, um blinde Augen zu öffnen, um Gefangene hinauszuführen aus dem Gefängnis und aus dem Kerker, die in der Finsternis sitzen» (Jes 42,6f). Doch kennt er auch unser Sicherheitsbedürfnis: «Du Gedemütigte, Sturmzerzauste, Nichtgetröstete, sieh, ich lege deine Steine mit hartem Mörtel und deine Grundmauern mit Saphiren. Und deine Schilde mache ich wie Edelsteine und deine Tore zu Feuersteinen und deinen ganzen Wall zu kostbarem Gestein» (Jes 54,11f). Der heilige Petrus mahnt uns: «Laßt euch selbst aufbauen als lebendige Steine zu einem geistlichen Haus» (1Petr 2,5). Und Paulus ergänzt, «der Schlußstein ist Christus Jesus selbst» (Eph 2,20).

Tränen kennen wir alle. «Ach, wie liegt sie einsam da, die Stadt, einst reich an Volk, nun einer Witwe gleich! Eine Große unter den Nationen, eine Fürstin unter den Provinzen, nun in Fronarbeit! Bitter weint sie in der Nacht, und ihre Tränen sind auf ihren Wangen, keinen hat sie, der tröstet, unter all denen, die sie geliebt haben; all ihre Freunde haben treulos an ihr gehandelt, sind nun ihre Feinde» (Klgl 1,1f), klagt der Prophet Jeremia. Sind nun Saphire und Edelsteine, Gold und Perlen nichts als ein schöner Traum? «Er wird sich niedersetzen und schmelzen und das Silber rein machen, und er wird die Leviten rein machen und sie läutern wie das Gold und wie das Silber» (Mal 3,3). Das ist kein Traum; geprüft und taxiert zu werden, ist eine ganz alltägliche Erfahrung. Und es kann auch wehtun: «Meine Geliebten, wundert euch nicht über das Feuer, das bei euch ausgebrochen ist, um euch auf die Probe zu stellen, als widerfahre euch dadurch etwas Fremdes. Im Gegenteil, freut euch, daß ihr damit an den Leiden Christi teilhabt; so werdet ihr auch bei der Offenbarung seiner Herrlichkeit euch freuen und jubeln können» (1Petr 4,12f). Aber vielleicht ist gerade Ihr Leben, so reich an Enttäuschung und zerplatzten Träumen, dem HERRN kostbar: «Teuer ist in den Augen des HERRN der Tod seiner Getreuen» (Ps 116,15); vielleicht ist es «eine besonders kostbare Perle», und als der Händler Sie, ja genau Sie «fand, ging er hin, verkaufte alles, was er hatte, und kaufte sie» (Mt 13,46).

Und warum sollte Gott ausgerechnet mein Leben für kostbar halten? «Weil du teuer bist in meinen Augen, geachtet bist, und weil ich dich liebe» (Jes 43,4). Wenn jetzt «unser Mund voll Lachen und unsere Zunge voll Jubel» ist, dann drücken wir doch erneut den Button und singen wir gemeinsam die zweite Strophe!

Spüren Sie noch, wie Ihre Füße in der himmlischen Stadt stehen? Der Seher Johannes auf Patmos kann uns ihre Kleinode in erstaunlicher Genauigkeit schildern: «Und ihr Mauerwerk war aus Jaspis, und die Stadt war aus reinem Gold, das war wie reines Glas. Die Grundsteine der Stadtmauer waren aus je einem Edelstein kunstvoll gefertigt: Der erste Grundstein war ein Jaspis, der zweite ein Saphir, der dritte ein Chalzedon, der vierte ein Smaragd, der fünfte ein Sardonyx, der sechste ein Karneol, der siebte ein Chrysolith, der achte ein Beryll, der neunte ein Topas, der zehnte ein Chrysopras, der elfte ein Hyazinth, der zwölfte ein Amethyst. Und die zwölf Tore waren zwölf Perlen; jedes der Tore bestand aus einer einzigen Perle. Und die Straße der Stadt war reines Gold, wie durchsichtiges Glas» (Offb 21,18–21). Kommen Sie mit, wir schauen uns ein bißchen um in unserer Heimatstadt.

«Voller Erbarmen kehre ich zurück nach Jerusalem. Meine Städte werden noch überfließen von Gutem! Und der HERR wird Zion noch trösten und Jerusalem noch erwählen!» (Sach 1,16f). «Und an jenem Tag triefen die Berge vom Saft der Trauben, und die Hügel fließen über von Milch, und in allen Flußbetten von Juda strömt Wasser. Und eine Quelle geht aus vom Haus des HERRN und tränkt das Akaziental» (Joël 4,18). «Wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, der wird in Ewigkeit nicht mehr Durst haben, nein, das Wasser, das ich ihm geben werde, wird in ihm zu einer Quelle werden, deren Wasser ins ewige Leben sprudelt» (Joh 4,14).

«Und am Fluß, an seinen Ufern auf der einen und auf der anderen Seite, werden Bäume aller Art mit eßbaren Früchten wachsen; ihre Blätter werden nicht welken, und ihre Früchte werden nicht aufgebraucht. In ihren Monaten werden sie Früchte tragen, denn ihr Wasser kommt aus dem Heiligtum. Und ihre Früchte werden als Speise dienen und ihre Blätter als Heilmittel» (Ez 47,12). «Und er zeigte mir den Fluß mit dem Lebenswasser, der klar ist wie Kristall, und er entspringt dem Thron Gottes und des Lammes. In der Mitte zwischen der Straße und dem Fluß, nach beiden Seiten hin, sind Bäume des Lebens, die zwölfmal Frucht tragen. Jeden Monat spenden sie ihre Früchte, und die Blätter der Bäume dienen zur Heilung der Völker» (Offb 22,1f).

Das sind Aussichten, was? Da möchte man doch bleiben und Hütten bauen, nicht wahr? «Und nach sechs Tagen nimmt Jesus den Petrus, den Jakobus und dessen Bruder Johannes mit und führt sie abseits auf einen hohen Berg. Da wurde er vor ihren Augen verwandelt, und sein Angesicht strahlte wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie das Licht. Und siehe da: Es erschienen ihnen Mose und Elija, und sie redeten mit ihm.

Da ergriff Petrus das Wort und sagte zu Jesus: Herr, es ist schön, daß wir hier sind. Wenn du willst, werde ich hier drei Hütten bauen, eine für dich, eine für Mose und eine für Elija» (Mt 17,1–4). Dem Fischer Petrus wachsen hier ungeahnte Talente zu. Und uns nicht? «Denn der Gott, der gesagt hat: Aus der Finsternis soll Licht aufstrahlen, er ist es, der es hat aufstrahlen lassen in unseren Herzen, so daß die Erkenntnis aufleuchtet, die Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes auf dem Angesicht Jesu Christi» (2Kor 4,6).

Nun also, bauen auch wir eine Hütte! Nein, nicht allein! Wir haben doch Hilfe:

«An jenem Tag richte ich die verfallene Hütte Davids auf, und ihre Risse werde ich vermauern, und ihre Trümmer richte ich auf, und ich werde sie bauen wie in früheren Tagen, damit sie in Besitz nehmen, was von Edom übrig ist, und dazu alle Nationen, über denen mein Name ausgerufen ist. Spruch des HERRN, der dies tut» (Am 9,11f). So, fertig ist die Laube! Wir machen es uns davor bequem und – reißen Mund und Augen auf. «Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde. Denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und die heilige Stadt, ein neues Jerusalem, sah ich vom Himmel herabkommen von Gott her, bereit wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat. Und ich hörte eine laute Stimme vom Thron her rufen:

Siehe, die Wohnung Gottes bei den Menschen! Er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und Gott selbst wird mit ihnen sein, ihr Gott.  Und abwischen wird er jede Träne von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, und kein Leid, kein Geschrei und keine Mühsal wird mehr sein; denn was zuerst war, ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu! Und er sagt: Schreib, denn diese Worte sind zuverlässig und wahr. Und er sagte zu mir: Es ist geschehen. Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende. Ich werde dem Dürstenden von der Quelle des Lebenswassers zu trinken geben, umsonst» (Offb 21,1–6).

Die Wohnung Gottes, oder, wie Luther übersetzt, «Hütte Gottes bei den Menschen»: das könnte die Untertreibung der letzten zwei Jahrtausende sein. Doch nein! Die griechische σκηνή ist etwas durch und durch Provisorisches: ein Zelt, eine Hütte oder ein hölzernes Gerüst, aber nichts Festes, nichts Stabiles. Die Hütte Gottes – das sind wir.

Bleiben Sie Gott befohlen!

Ihr Sebastian Söder.