Zu manchen Zeiten erleben wir, dass große philosophische Fragen zu ganz alltäglichen Aufgaben und Herausforderungen werden. Große Gelehrte unserer Menschheitsgeschichte zum Beispiel haben sich Gedanken gemacht, wie die Welt zu vermessen sei, es entstanden Breiten- und Längengrade, aber auch ganz andere Gesetzmäßigkeiten, die dann wiederum immer wieder neu und genauer bewiesen werden mussten.

Diese Vermessung der Welt ist seit Mitte März inzwischen so ziemlich im Kopf eines jeden Menschen angekommen und hat sich dort als dauernde Aufgabe verwurzelt. Synapsen beginnen zu glühen, die Schätzabteilung des menschlichen Gehirns macht Überstunden:

Wieviel sind jetzt 1,50 Meter oder je nach Verortung, wieviel sind jetzt genau 2 Meter.

Das Bemühen um die Lösung dieser zurzeit fundamentalen Frage zeigt sich äußerlich in den prüfenden Blicken von uns. Ich betrachte meinen Standpunkt, den meines am nächsten stehenden Mitmenschen und schließlich den Raum dazwischen. Stimmt es oder ist es zuwenig…oder darf ich noch etwas aufrücken, näher treten. Auch beim Open-Air-Gottesdienst vor St. Raphael konnte man diesen Blicken kaum ausweichen.

 In den Medien findet man so mancherlei Ansätze zur visuellen Lösung des Problems:

Eine Grundschule macht darauf aufmerksam, den Abstand der Körpergröße eines Viertklässlers einzuhalten (gut, das hätte wohl bei meiner Person zu einer Ordnungswidrigkeit aufgrund des Unterschreitens des Mindestabstands geführt). In Florida kursieren Schilder, die zwischen zwei Menschen einen ausgewachsenen Alligator zeigen (okay, dies würde die Notwendigkeit des Social Distancing unterstreichen), hier in Europa könnte man vielleicht ein ausgewachsene Ringelnatter oder sechs Eichhörnchen nehmen (falls diese Hinweise ernstgenommen werden). Autofreaks werden wissen, dass die Breite einer Limousine den gesetzlichen Mindestabstand entspricht… oder ganz aktuell: 10 aneinander gelegte Toilettenpapierblätter.  Es geht auch international, zum Beispiel entspricht der Abstand in der Schweiz 6,5 lange aufgereihter Toblerone-Riegel (360 gr.) oder für Fortgeschrittene einem 2242tel der Höhe des Matterhorns, in Frankreich 3 Baguettes (die großen) und in Italien 6 Packungen Spaghetti.

Sie sehen, das macht durchaus Spaß und ist eine kleine Wissenschaft für sich. Aber für mich ist der Hintergrund schon ernster. Ich denke, wir werden noch lange mit dieser „neuen“ Normalität zu tun haben. Proteste, wie sie am letzten Wochenende in einigen Städten stattgefunden haben, zeugen meiner Ansicht nach von einer Individualisierung unserer Gesellschaft, die zu einem rücksichtsvollen Verhalten führen. Nein, wir müssen verantwortungsvoll und phantasievoll mit dieser Wirklichkeit umgehen, denn nur dann erreichen wir, dass die physische Distanzierung nicht zu einer sozialen wird. Wir stehen vor spannenden Herausforderungen, nicht nur der Vermessungen, sondern auch des mitmenschlichen Verhaltens. Sind wir dazu bereit?

Thomas Willms

 

Quelle: u. a. https://www.sueddeutsche.de/panorama/corona-coronavirus-corona-krise-abstand-halten-mindestabstand-grundschule-florida-mathematik-1.4894068
Bilder:

https://www.de24.news/2020/04/ein-landkreis-in-florida-erinnert-die-menschen-daran-einen-abstand-von-mindestens-einem-alligator-untereinander-einzuhalten.html
Wilhelm Funken, Haus des Teilens